Der BGH hat in einer aktuellen Entscheidung die bislang ungelöste Frage aufgeworfen, in welchem Verhältnis das Mietervorkaufsrecht nach § 577 BGB und ein dingliches Vorkausfrecht nach § 1094 BGB zueinander stehen.
- In der Rechtsliteratur wird überwiegend davon ausgegangen, dass gesetzliche Vorkaufsrechte und namentlich das Mietervorkaufsrecht Vorrang vor dinglichen Vorkaufsrechten haben.
- Nach anderer Ansicht soll letzteres nur gelten, wenn das dingliche Vorkaufsrecht nach Abschluss des Mietvertrages bestellt wurde, anderenfalls soll das dingliche Vorkaufsrecht Vorrang haben.
Der BGH lässt die Frage höchtsrichterlich ungeklärt. Denn es ging im konkreten Fall um ein dingliches Vorkausfrecht zugunsten eines Familienangehörigen des Eigentümers/Vermieters – und dieses hat auf jeden Fall Vorrang.
Das dingliche Vorkaufsrecht genießt jedenfalls dann Vorrang vor dem Vorkaufsrecht des Mieters, wenn es von dem Eigentümer zugunsten eines Familienangehörigen i.S.v. § 577 Abs. 1 Satz 2 BGB bestellt wurde.
BGH, Beschluss vom 27. April 2023 – V ZB 58/22
Maßgeblich ist dabei die Wertung des § 577 Abs. 1 S. 2 BGB selbst. Demnach ist der Mieter nicht zum Vorkauf berechtigt, wenn der Vermieter die Wohnräume an einen Familienangehörigen oder an einen Angehörigen seines Haushalts verkauft.
- Der Vermieter könnte also das Grundstück oder Wohnungseigentum direkt an den Familienangehörigen verkaufen, ohne dass der Mieter zum Vorkauf berechtigt wäre.
- Der Erwerber könnte dann wegen Eigenbedarf kündigen. Der Begriff des Familienangehörigen entspricht in § 577 BGB dem der Regelung in § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB über die Eigenbedarfskündigung. Gegenüber der Verdrängung durch einen Erwerber, der nach Eigentumsumschreibung das Mietverhältnis wegen Eigenbedarfs kündigt, ist der Mieter nach den §§ 573, 577 BGB im Verhältnis zu Familienangehörigen des Vermieters nicht geschützt.
HINWEIS:
Kürzlich erst hatte der BGH die Rechte der Vermieter bei Eigenbedarf gestärkt, insbesondere wie folgt:
(1.) Das Recht der Vermieter auf Eigenbedarf ist letztlich ein von Verfassung wegen geschütztes Recht.
(2.) Das Eigentumsrecht der Vermieter ist auch nicht infolge einer Vermietung auf die Freiheit reduziert, aus der Vermietung der Wohnung finanziellen Ertrag zu erzielen.
(3.) Der Eigenbedarf ist unabhängig von der Art seines Entstehens von der Eigentumsgarantie sowie von dem Persönlichkeitsrecht und der Handlungsfreiheit des Grundgesetzes erfasst.
(4.) Den Vermietern steht als Eigentümern die Befugnis zu, ihr Leben unter Gebrauch ihrer Wohnung so einzurichten, wie sie dies für richtig erachten. Dies zu bewerten steht weder den Gerichten noch den Mietern zu. Gerichte haben die vom Vermieter beabsichtigte Lebensplanung grundsätzlich zu respektieren und ihrer Rechtsfindung zugrunde zu legen.
Folglich gibt es wertungsmäßig keinen Grund für einen Vorrang des Mietervorkaufsrechts vor einem dinglichen Vorkaufsrecht zugunsten von Familienangehörigen des Vermieters.
Auch verfassungsrechtlich passt das. Mit der Regelung des § 577 BGB wollte der Gesetzgeber zwar der Gefahr der Verdrängung des Mieters aufgrund einer spekulativen Umwandlung von Wohnungen in Eigentumswohnungen begegnen. Andererseits erschien ihm das Interesse des Vermieters, die Wohnung
an eine bestimmte ihm nahestehende Person verkaufen zu können, aber vorrangig. Das ist verfassungsrechtlich in Ordnung und bei der Gesetzesanwendung zwingend zu beachten.
Diesem gesetzgeberischen Regelungskonzept, mit dem – wie in § 577 BGB insgesamt – die durch Art. 14 GG geschützten Grundrechtspositionen von Mieter und Vermieter in einen sachgerechten Ausgleich gebracht werden sollen, widerspräche es, wenn dem gesetzlichen Mietervorkaufsrecht im Verhältnis zu einem von dem Vermieter zugunsten eines Familienangehörigen bestellten dinglichen Vorkaufsrecht Vorrang eingeräumt würde.
BGH, Beschluss vom 27. April 2023 – V ZB 58/22
HINWEIS:
Ein Vorrang des Mietervorkaufsrechts kann allenfalls in Fällen von Rechtsmissbräuchen in Betracht kommen, die dadurch gekennzeichnet sind, dass nur zur Ausschaltung des Vorkaufsrechts des Mieters einer nach § 577 Abs. 1 Satz 2 BGB privilegierten Person ein dingliches Vorkaufsrecht eingeräumt wird.
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