Eine aktuelle Entscheidung des BGH gibt Einblick in die weitrechende Duldungspflicht der Grundstückseigentümer bei Stromanschlüssen nach der NAV.
Die Niederspannungsanschluss-Verordnung
Die Verordnung über Allgemeine Bedingungen für den Netzanschluss und dessen Nutzung für die Elektrizitätsversorgung in Niederspannung (Niederspannungsanschlussverordnung – NAV) regelt die Allgemeinen Bedingungen, zu denen Netzbetreiber im Sinne des Energiewirtschaftsgesetzes jedermann an ihr Niederspannungsnetz anzuschließen und den Anschluss zur Entnahme von Elektrizität zur Verfügung zu stellen haben.
Die Duldungspflicht
Gemäß § 12 Abs. 1 Satz 1 NAV haben Anschlussnehmer, die Grundstückseigentümer sind, für Zwecke der örtlichen Versorgung das Anbringen und Verlegen von Leitungen zur Zu- und Fortleitung von Elektrizität über ihre im Gebiet des Elektrizitätsversorgungsnetzes der allgemeinen Versorgung liegenden Grundstücke unentgeltlich zuzulassen.
Nach dem BGH, Urteil vom 9. Dezember 2016 – V ZR 231/15, ist diese dem Grundeigentümer auferlegte allgemeine unentgeltliche Duldungspflicht eine Ausprägung der verfassungsrechtlichen Sozialbindung des Eigentums.
Die von einem Elektrizitätsversorgungsunternehmen versorgten Anschlussnehmer stellen innerhalb eines Versorgungsgebiets aus technisch- wirtschaftlichen Gründen eine Solidargemeinschaft dar, die nur durch ein für alle Abnehmer bereit gehaltenes, die Benutzung fremder Grundstücke erforderndes Netz mit Strom versorgt werden kann. Daher muss derjenige, der als Anschlussnehmer an den Vorteilen der öffentlichen Stromversorgung teilnimmt oder teilnehmen will, auch zu deren – kostengünstigen – Schaffung und Aufrechterhaltung ohne Entgelt durch die Zurverfügungstellung seiner Grundstücke beitragen.
Zur Reichweite der Duldungspflicht
- Versorgung von Dritten: Die Duldungspflicht besteht nicht nur hinsichtlich solcher Leitungen, die der eigenen Versorgung dienen, sondern auch insoweit, als die Versorgung Dritter eine Leitungsführung über das in Anspruch genommene Grundstück erforderlich macht.
- Nicht ans Stromnetz angeschlossene Grundstücke: Die Duldungspflicht des Eigentümers betrifft nicht nur die Grundstücke, die an das Elektrizitätsversorgungsnetz angeschlossen sind (§ 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 NAV), sondern gemäß § 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 NAV auch solche Grundstücke, die von dem Eigentümer in wirtschaftlichem Zusammenhang mit einem an das Netz angeschlossenen Grundstück genutzt werden. Der Begriff des wirtschaftlichen Zusammenhangs soll nach dem BGH weit zu verstehen sein: Regelmäßig bestehe ein solcher Zusammenhang, wenn das Grundstück unmittelbar an das an das Netz angeschlossene Grundstück angrenzt.
Was gilt bei öffentlichen Verkehrswegen und Verkehrsflächen?
Nach § 12 Abs. 5 NAV besteht keine Duldungspflicht für öffentliche Verkehrswege und Verkehrsflächen sowie für Grundstücke, die durch Planfeststellung für den Bau von öffentlichen Verkehrswegen und Verkehrsflächen bestimmt sind. Der BGH legt diese Ausnahmeregelung restriktiv aus:
§ 12 Abs. 5 NAV erfasst nur die im Eigentum der öffentlichen Hand stehenden, dem öffentlichen Verkehr eröffneten Verkehrswege und Verkehrsflächen, nicht dagegen im Privateigentum stehende Wege, die dem öffentlichen Verkehr gewidmet sind.
Der BGH begründet diese Ausnahme mit einem Systemunterschied:
Während bei im Privateigentum stehenden Grundstücken die Duldungspflicht der betroffenen Kunden und Anschlussnehmer aus der Sozialpflichtigkeit ihrer im Versorgungsgebiet gelegenen Grundstücke folgt, besteht eine solche Duldungspflicht bei der im Eigentum der öffentlichen Hand stehenden Verkehrswege und Verkehrsflächen nicht, da insoweit die wechselseitigen Rechte und Pflichten über ein bestehendes Regelungssystem von Gestattungs- und Konzessionsverträgen geregelt werden sollen. Über dieses Regelungssystem verfolgen die Gemeinden das Ziel, entsprechend ihrer Verpflichtung aus Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG die Versorgung der Bevölkerung mit Energie sicherzustellen und eine angemessene Vergütung (Konzessionsabgaben) für die Benutzung der gemeindlichen Wege durch das Energieversorgungsunternehmen zu erhalten.
Dieses System von Gestattungs- und Konzessionsverträgen wollte der Verordnungsgeber durch die Ausnahme in § 12 Abs. 5 NAV unangetastet lassen. Quasi kompensierend hierzu hat der Gesetzgeber in § 46 Abs. 1 EnWG für die Gemeinden einen Kontrahierungszwang geregelt, mit dem sichergestellt werden soll, dass diese ihre öffentlichen Verkehrswege für die Verlegung und den Betrieb von Leitungen zur unmittelbaren Versorgung von Letztverbrauchern im Gemeindegebiet durch Vertrag zur Verfügung stellen.
Die öffentliche Hand hatte seit jeher die Nutzung ihrer Straßen und Wege durch die Versorgungsunternehmen mittels Gestattungs- bzw. Konzessionsverträgen geregelt. Die Inanspruchnahme von Bundes-, Landes- und Kreisstraßen für elektrische Leitungen erfolgte auf der Grundlage von Gestattungsverträgen. Seit 1968 hat dies zur Entwicklung von zwischen der Versorgungswirtschaft und den zuständigen Behörden vereinbarten Vertragsmustern geführt, auf deren Grundlage die Benutzung von Bundes- und weitgehend auch von Landes- und Kreisstraßen geregelt wurde.
Eine solche Privilegierung sieht der BGH nicht für die dem öffentlichen Verkehr gewidmeten privaten Wegegrundstücke begründet. Andernfalls könnte der private Eigentümer grundsätzlich frei darüber entscheiden, ob er sein Wegegrundstück für die Inanspruchnahme durch Energieversorgungsleitungen durch einen entgeltlichen Gestattungsvertrag zur Verfügung stellt oder nicht. Denn:
- Von der Duldungspflicht wäre er aufgrund der Privilegierung nach § 12 Abs. 5 NAV befreit.
- Zugleich gilt für ihn aber kein Kontrahierungszwang nach § 46 Abs. 1 EnWG.
- Es bliebe nur die nur unter engen Voraussetzungen und nur als letztes Mittel möglichen Enteignung nach § 45 EnWG.
Hierin sieht der BGH eine nicht gewollte Regelungslücke und eine nicht zu rechtfertigende Besserstellung des privaten Eigentümers.
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