Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat am 04. Juli 2019 (C-377/17) entschieden, dass die Bundesrepublik Deutschland mit der Regelung von verbindlichen Honoraren für Architekten und Ingenieure in der Honorarordnung für Architekten und Ingenieure vom 10. Juli 2013 (HOAI) gegen europäisches Recht verstoßen hat. Man hatte mit einer solchen Entscheidung gerechnet, die Begründung hat es aber durchaus in sich.
Was war geschehen?
- Mit Aufforderungsschreiben vom 18. Juni 2015 hatte die Kommission die deutschen Behörden darauf hingewiesen, dass die Honorarvorschriften der HOAI gegen europäisches Recht verstoßen könnten.
- Mit Schreiben vom 22. September 2015 war die Bundesrepublik Deutschland dem entgegengetreten. Sie machte geltend, die HOAI beschränke nicht die Niederlassungsfreiheit und selbst wenn dies der Fall wäre, sei eine gegebenenfalls vorliegende Beschränkung dieser Art durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt. Außerdem regelten die fraglichen nationalen Bestimmungen nur rein innerstaatliche Sachverhalte, die nicht im Licht der Richtlinie 2006/123 und des Art. 49 AEUV hätten geprüft werden können.
- Am 25. Februar 2016 hatte die Kommission eine mit Gründen versehene Stellungnahme abgegeben, in der sie die von ihr im Aufforderungsschreiben dargelegten Argumente wiederholte. Sie forderte die Bundesrepublik Deutschland auf, binnen zwei Monaten nach Eingang dieser Stellungnahme die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um ihr nachzukommen.
- Die Bundesrepublik Deutschland antwortete auf diese Stellungnahme am 13. Mai 2016, wobei sie an ihrer Argumentation festhielt.
- Daraufhin erhob die Kommission Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland wegen Vertragsverletzung.
Die Norm
Art. 15 der Richtlinie 2006/123
In Art. 15 dieser Richtlinie heißt es (auszugsweise, soweit hier relevant):
(1) Die Mitgliedstaaten prüfen, ob ihre Rechtsordnungen die in Absatz 2 aufgeführten Anforderungen vorsehen, und stellen sicher, dass diese Anforderungen die Bedingungen des Absatzes 3 erfüllen. Die Mitgliedstaaten ändern ihre Rechts- und Verwaltungsvorschriften, um sie diesen Bedingungen anzupassen.
(2) Die Mitgliedstaaten prüfen, ob ihre Rechtsordnung die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit von folgenden nicht diskriminierenden Anforderungen abhängig macht:
g) der Beachtung von festgesetzten Mindest- und/oder Höchstpreisen durch den Dienstleistungserbringer;
(3) Die Mitgliedstaaten prüfen, ob die in Absatz 2 genannten Anforderungen folgende Bedingungen erfüllen:
a) Nicht-Diskriminierung: [D]ie Anforderungen dürfen weder eine direkte noch eine indirekte Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit oder – bei Gesellschaften – aufgrund des Orts des satzungsmäßigen Sitzes darstellen;
b) Erforderlichkeit: [D]ie Anforderungen müssen durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein;
c) Verhältnismäßigkeit: [D]ie Anforderungen müssen zur Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Ziels geeignet sein; sie dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist; diese Anforderungen können nicht durch andere weniger einschneidende Maßnahmen ersetzt werden, die zum selben Ergebnis führen.
(5) In dem in Artikel 39 Absatz 1 genannten Bericht für die gegenseitige Evaluierung geben die Mitgliedstaaten an:
a) welche Anforderungen sie beabsichtigen beizubehalten und warum sie der Auffassung sind, dass diese die Bedingungen des Absatzes 3 erfüllen;
b) welche Anforderungen sie aufgehoben oder gelockert haben.
(6) Ab dem 28. Dezember 2006 dürfen die Mitgliedstaaten keine neuen Anforderungen der in Absatz 2 genannten Art einführen, es sei denn, diese neuen Anforderungen erfüllen die in Absatz 3 aufgeführten Bedingungen.
Die Entscheidung
Der EuGH verwirft zunächst die Annahme, Art. 15 der Richtlinie 2006/123 sei nicht auf rein innerstaatliche Sachverhalte anwendbar. Nach dem EuGH sind die Bestimmungen über die Niederlassungsfreiheit der Dienstleistungserbringer dahin auszulegen, dass sie auch auf einen Sachverhalt anwendbar sind, dessen Merkmale sämtlich nicht über die Grenzen eines einzigen Mitgliedstaats hinausweisen.
Die Anforderungen der HOAI fallen nach Ansicht des EuGH, soweit sie die Mindest- und Höchstsätze für Planungsleistungen von Architekten und Ingenieuren festlegen, unter Art. 15 Abs. 2 Buchst. g der Richtlinie 2006/123.
Um mit den Zielen dieser Richtlinie vereinbar zu sein, dürfen die Mindest- und Höchstsätze keine Diskriminierung [1.] darstellen und müssen zur Verwirklichung eines zwingenden Grundes des Allgemeininteresses erforderlich [2.] und verhältnismäßig [3.] sein.
Zu 1.: Keine Diskriminierung
Der EuGH verneint eine direkte und eine indirekte Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit oder – bei Gesellschaften – aufgrund des Ortes des satzungsmäßigen Sitzes.
Zu 2.: Erforderlichkeit
Nach der Bundesrepublik Deutschland werden mit den Mindestpreisen die Ziele der Qualität der Planungsleistungen, des Verbraucherschutzes, der Bausicherheit, des Erhalts der Baukultur und des ökologischen Bauens verfolgt und soll mit den Höchstpreisen der Verbraucherschutz sichergestellt werden, indem sie die Transparenz der Honorare im Hinblick auf die entsprechenden Leistungen gewährleisten und überhöhte Honorare unterbinden.
Das bestätigt der EuGH im Wesentlichen:
- Die Ziele der Qualität der Arbeiten und des Verbraucherschutzes werden als zwingende Gründe des Allgemeininteresses anerkannt.
- Die Ziele des Erhalts der Baukultur und des ökologischen Bauens können mit den allgemeineren Zielen der Erhaltung des kulturellen und historischen Erbes und des Umweltschutzes verknüpft werden, die ebenfalls zwingende Gründe des Allgemeininteresses darstellen.
- Darüber hinaus hebt der EuGH hervor, dass der 40. Erwägungsgrund der Richtlinie 2006/123 bestätigt, dass der Schutz von Dienstleistungsempfängern, der Schutz der Umwelt und kulturpolitische Zielsetzungen zwingende Gründe des Allgemeininteresses sind.
Zu 3.: Verhältnismäßigkeit
Die dritte Bedingung setzt voraus, dass drei Untervoraussetzungen vorliegen, und zwar muss die Anforderung zur Verwirklichung des verfolgten Ziels geeignet sein, darf nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist, und darf nicht durch andere weniger einschneidende Maßnahmen erreicht werden können, die zum selben Ergebnis führen.
Was gilt für die HOAI-Mindestsätze?
Nach dem EuGH kann nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass die Festsetzung eines Mindestpreises hilft, einen Konkurrenzkampf zu vermeiden, der zu Billigangeboten führen könnte, was das Risiko eines Verfalls der Qualität der erbrachten Dienstleistungen zur Folge hätte. Im Hinblick auf die Besonderheiten des Marktes für Architekten- und Ingenieurleistungen kann demnach die Gefahr bestehen, dass die in dem Mitgliedstaat tätigen Erbringer von Planungsleistungen im Bauwesen in einem Konkurrenzkampf stehen, der zu Billigangeboten und durch „adverse Selektion“ sogar zur Ausschaltung von Qualitätsleistungen anbietenden Wirtschaftsteilnehmern führen könnte. Die Besonderheit des Marktes wird mit einer starken Informationsasymmetrie beschrieben, weil die Architekten/Ingenieure über Fachkenntnisse verfügen, die die meisten ihrer Kunden nicht besitzen, so dass es Letzteren schwerfällt, die Qualität der angebotenen Planungsleistungen zu beurteilen. Daher kann die Festsetzung von Mindestpreisen dazu beitragen, diese Gefahr zu begrenzen, indem verhindert wird, dass Leistungen zu Preisen angeboten werden, die langfristig nicht die Qualität dieser Leistungen gewährleisten können.
Die Existenz von Mindestsätzen für die Planungsleistungen kann nach dem EuGH im Hinblick auf die Beschaffenheit des deutschen Marktes also grundsätzlich dazu beitragen, eine hohe Qualität der Planungsleistungen zu gewährleisten.
Dann aber holt der EuGH mit Verweis auf seine ständige Rechtsprechung gegenüber der Bundesrepublik Deutschland den Hammer raus:
Jedoch ist daran zu erinnern, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs eine nationale Regelung nur dann geeignet ist, die Erreichung des angestrebten Ziels zu gewährleisten, wenn sie tatsächlich dem Anliegen gerecht wird, es in kohärenter und systematischer Weise zu erreichen.
EuGH
Sodann stellt der EuGH fest, dass solche Mindestsätze nicht geeignet sein können, ein solches Ziel zu erreichen, wenn für die Vornahme der Leistungen, die diesen Mindestsätzen unterliegen, nicht selbst Mindestgarantien gelten, die die Qualität dieser Leistungen gewährleisten können.
Die Kommission hatte der Bundesrepublik Deutschland vorgehalten, dass es in Deutschland jedenfalls keine Garantie gebe, dass die Planungsleistungen von Dienstleistungserbringern erbracht werden, die ihre entsprechende fachliche Eignung nachgewiesen haben. Und die Bundesrepublik Deutschland hatte selbst in ihren Schriftsätzen ausgeführt, dass die Planungsleistungen nicht bestimmten Berufsständen vorbehalten seien, die einer zwingenden berufs- oder kammerrechtlichen Aufsicht unterliegen, und dass neben Architekten und Ingenieuren auch andere nicht reglementierte Dienstleistungsanbieter Planungsleistungen erbringen können.
Das fiel der Bundesrepublik nun auf die Füße. Denn nach dem EuGH lässt der Umstand, dass in Deutschland Planungsleistungen von Dienstleistern erbracht werden können, die nicht ihre entsprechende fachliche Eignung nachgewiesen haben, im Hinblick auf das mit den Mindestsätzen verfolgte Ziel, eine hohe Qualität der Planungsleistungen zu erhalten, eine Inkohärenz in der deutschen Regelung erkennen.
Daher ist festzustellen, dass es der Bundesrepublik Deutschland nicht gelungen ist, nachzuweisen, dass die in der HOAI vorgesehenen Mindestsätze geeignet sind, die Erreichung des Ziels einer hohen Qualität der Planungsleistungen zu gewährleisten und den Verbraucherschutz sicherzustellen.
EuGH
Was gilt für die HOAI-Höchstsätze?
Im Hinblick auf die Höchstpreise bestätigt der EuGH zunächst, dass diese zum Verbraucherschutz beitragen können, indem die Transparenz der von den Dienstleistungserbringern angebotenen Preise erhöht wird und diese daran gehindert werden, überhöhte Honorare zu fordern. Allerdings war es der Bundesrepublik Deutschland nicht gelungen, zu begründen, weshalb die von der Kommission als weniger einschneidend vorgeschlagene Maßnahme, Kunden Preisorientierungen für die verschiedenen von der HOAI genannten Kategorien von Leistungen zur Verfügung zu stellen, nicht ausreichen würde, um dieses Ziel in angemessener Weise zu erreichen.
Folglich kann das Erfordernis, Höchstsätze festzulegen, im Hinblick auf dieses Ziel nicht als verhältnismäßig angesehen werden.
EuGH
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