Zur Rücksichtslosigkeit von Spekulationsangeboten
Nach § 241 Abs. 2 BGB kann ein Schuldverhältnis nach seinem Inhalt jeden Teil zur Rücksicht auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils verpflichten. Ein solches Schuldverhältnis kann nach § 311 Abs. 2 BGB auch schon vor Vertragsschluss bestehen. Zum Beispiel im Bauvergabeverfahren, in welchem der Bieter zur Rücksichtnahme auf die Interessen des Auftraggebers verpflichtet sein kann. Dies hat der BGH nun in einem aktuellen Urteil bekräftigt.
Der Bieter verletzt diese Rücksichtnahmepflicht, wenn er die Ausgestaltung des Leistungsverzeichnisses zu unredlicher Spekulation ausnutzt. So kann er mit einem Angebot, das spekulativ so ausgestaltet ist, dass dem Auftraggeber bei Eintritt bestimmter, zumindest nicht gänzlich fernliegender Umstände erhebliche Übervorteilungen drohen, seine Rücksichtnahmepflicht aus § 241 Abs. 2 BGB verletzen.
Es ist zwar nach dem BGH nicht von vornherein anstößig, wenn ein Bieter Unschärfen des Leistungsverzeichnisses etwa bei den Mengenansätzen erkennt und durch entsprechende Kalkulation Vorteile zu erringen sucht.
Die Bieter sind nach ständiger Rechtsprechung des BGH in der Kalkulation ihrer Preise grundsätzlich frei. Das schließt die Befugnis ein festzulegen, zu welchen Einzelpreisen die Positionen des Leistungsverzeichnisses ausgeführt werden sollen.
Allerdings überschreitet der Bieter die Grenze zum Unredlichen und damit Pflichtwidrigen, wenn er den Preis für einzelne Positionen – etwa in der Erwartung, dass die dafür im Leistungsverzeichnis angesetzten Mengen bei der Leistungsausführung überschritten werden – drastisch erhöht und den daraus resultierenden höheren Gesamtpreis zur Wahrung der Wettbewerbsfähigkeit seines Angebots im Wege einer Mischkalkulation dadurch kompensiert, dass er andere Positionen – vorzugsweise solche, bei denen gegebenenfalls Mindermengen zu erwarten sind – mehr oder minder deutlich verbilligt (sog. Spekulationsangebote).
Setzt der Bieter für eine Position, bei der in der Ausführung nicht unerhebliche Mehrmengen anfallen können, einen Preis an, welcher derart überhöhte Nachforderungen nach sich ziehen kann, dass das Ziel, im Wettbewerb das günstigste Angebot hervorzubringen, verfehlt wird und dass für den Auftraggeber eine Unzumutbarkeit begründet wird, verhält sich der Bieter rücksichtslos im Sinne des § 241 Abs. 2 BGB.
Der Vorwurf der Rücksichtslosigkeit kann nicht allein darauf gestützt werden, dass der Bieter bestimmte Positionen besonders preiswert anbietet. Es ist den Bietern auch nicht schlechthin verwehrt, zu einem Gesamtpreis anzubieten, der lediglich einen Deckungsbeitrag zu den eigenen Fixkosten verspricht (Unterkostenangebote). Das Interesse des Auftraggebers an einwandfreier Ausführung und Haftung für die Gewährleistungsansprüche wird nach dem BGH grundsätzlich nicht dadurch gefährdet, dass bestimmte Einzelpositionen „zu billig“ angeboten werden, sondern dass der Auftragnehmer infolge eines zu geringen Gesamtpreises in Schwierigkeiten gerät. Der Auftraggeber ist bei solchen Angeboten gehalten sorgfältig zu prüfen, ob eine einwandfreie Ausführung und Haftung für Gewährleistungsansprüche gesichert ist.
Für den Vorwurf der Rücksichtlosigkeit bedarf eines zusätzlichen unrechtsbegründenden Elements wie die korrespondierende spekulative Aufpreisung anderer Positionen.
Der Bieter kann sich nämlich auf diese Weise bei der Wertung nach dem Preis einen geringfügigen, aber gegebenenfalls für die Rangfolge der Angebote ausschlaggebenden Vorteil verschaffen, der mit der Chance eines deutlich erheblicheren wirtschaftlichen Nachteils für den Auftraggeber bei der Abrechnung des Auftrags verbunden ist.
Der Fall
Im konkreten Fall ging es um die Ausschreibung eines öffentlichen Auftraggebers für eine Ufer-Stützmauersanierung und um die folgenden Positionen des Leistungsverzeichnisses:
- 01.000120: Anlieferung, Aufbau und Vorhaltung eines Turmdrehkrans während der auf drei Monate geschätzten Bauzeit und anschließenden Abbau des Gerüsts mit allen Nebenarbeiten (1.767,02 €);
- 01.000130: Vorhaltekosten für den Kran bei eventueller witterungsbedingter Unterbrechung für eine Woche (62,89 €);
- 01.000200: Einrüsten der sanierungsbedürftigen Mauerabschnitte, Auf- und Abbau sowie dreimonatige Vorhaltung des gesamten Gerüsts nebst An- und Abtransport sowie Hochwasserwartung (68.878,45 €);
- 01.000210: Vorhaltekosten für das Gerüst bei eventueller witterungsbedingter Verzögerung für eine Woche verlängerter Standzeit (12.678 €);
- 08.000010 bis 08.000050: Einsatz verschiedener Geräte (LKW-Kipper 8 t, Frontlader, Bagger, Kompressor und Trennmaschine) zuzüglich Bedienung jeweils für 5 Stunden bzw. 5 m mit Trennmaschine (jeweils 2,05 € pro Stunde bzw. in einem Fall – von 9,20 €).
Die vorstehend grün markierten Positionen wiesen auffällig niedrige Preise deutlich unter den Kosten des Bieters auf. Dies korrespondierte mit einem überproportional hohen Preis in der rot markierten Position betreffend die wöchentlichen Vorhaltekosten für das Gerüst bei eventueller witterungsbedingter Unterbrechung, welche im vorliegenden Fall nicht fernliegend war.
Von zentraler Bedeutung war das Verhältnis
- der Position für die Vorhaltung während der regulären Standzeit (oben blau markiert)
- zu der Position für die Vorhaltung während der wetterbedingten Standzeit (oben rot markiert).
Während sich für die wöchentliche Standzeit des Gerüsts während der regulären Standzeit (Position 01.000200) – unter Vernachlässigung der Kostenanteile für den Auf- und Abbau und Transport sowie der sonstigen Nebenkosten zugunsten des Klägers – ein Durchschnittspreis von etwas unter 5.300 € errechnet, müsste der Auftraggeber für jede Woche wetterbedingter Unterbrechung 12.678 € zahlen.
Hierin liegt nach dem BGH eine erhebliche spekulative Aufpreisung im vorgenannten Sinne und damit ein Verstoß des Bieters gegen seine Rücksichtnahmepflicht aus § 241 Abs. 2 BGB.
Was gilt bei Bedarfspositionen?
Das Vorstehende gilt nach dem BGH auch und gerade bei Bedarfspositionen:
Gerade der bedarfsweise Einsatz kann in der einen wie in der anderen Richtung Gegenstand spekulativer Gewinnerwartungen des betreffenden Bieters sein.
Bedarfspositionen (auch Eventualpositionen genannt) sind nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes solche Leistungspositionen, bei denen bei Ausschreibung noch nicht feststeht, ob und in welchem Umfang die beschriebenen Leistungen für die Durchführung des Bauvorhabens erforderlich werden und bei denen sich der Auftraggeber das Wahlrecht vorbehält, ob die Leistungen ausgeführt werden sollen oder nicht.
Wird (trotz § 7 Abs. 1 Nr. 4 VOB/A) eine Bedarfsposition aufgenommen, die wie die vorstehend rot markierte Position eine hohe Anfallwahrscheinlichkeit hat und sich progressiv auswirkt (der Preis kann leicht mehrmals anfallen; vorliegend wird der Wochenpreis für den Auftraggeber umso nachteiliger, je länger die Unterbrechung dauert) kann eine erhebliche spekulative Aufpreisung vorliegen.
Zum Vergaberecht nach der VOB/A
Bemerkenswert an der aktuellen Entscheidung des BGH ist die Begründung mit allgemeinen zivilrechtlichen Normen (§§ 241, 242 BGB) und dem allgemeinen Wettbewerbszweck eines Ausschreibungsverfahrens. Der BGH stützt diese Rechtsprechung nicht auf das öffentliche Vergaberecht.
Vergaberechtliche Normen schützen den öffentlichen Auftraggeber vielmehr in anderen Fallkonstellationen. Etwa die Regelung des § 13 Abs. 1 Nr. 3 VOB/A, wonach die Angebote der Bieter die geforderten Preise enthalten müssen. Diese Regelung trägt nach dem BGH zwar auch dem Umstand Rechnung, dass die Zahlungspflichten der Auftraggeber durch Verlagerung einzelner Preisbestandteile manipuliert werden können. Verlagert der Bieter die für einzelne Positionen des Leistungsverzeichnisses eigentlich vorgesehenen Preise ganz oder teilweise in andere Positionen, greift daher § 16 Abs. 1 Nr. 3 VOB/A grundsätzlich ein.
Eine Angebotsstruktur, bei der deutlich unter den zu erwartenden Kosten liegenden Ansätzen bei bestimmten Positionen auffällig hohe Ansätze bei anderen Positionen des Leistungsverzeichnisses entsprechen, indiziert eine solche Preisverlagerung. Kann der Bieter die Indizwirkung nicht erschüttern, rechtfertigt dies die Annahme, dass das Angebot nicht die geforderten Preisangaben enthält.
Spekulationsangebote im vorstehenden Sinne sind nach dem BGH dagegen kein Fall von § 13 Abs. 1 Nr. 3 VOB/A. Denn sowohl der überhöhte als auch der korrespondierend heruntergesetzte Preis entsprechen dem eigentlich Gewollten.
Daher bedarf es eines Rückgriffs auf die Normen des allgemeinen Schuldrechts. Normen des allgemeinen Schuldrechts finden aber selbstredend auch bei solchen Ausschreibungen Anwendung, die nicht unter die VOB/A fallen. Das macht die Entscheidung besonders spannend.
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