Aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Mietendeckel wissen wir, dass die Bundesländer nicht befugt sind, den modernisierungswilligen Eigentümer entgegen dem BGB-Mietrecht einzuschränken. Nun hatte der Bundesgerichtshof die umgekehrte Frage zu entscheiden, und zwar bezogen auf das Nachbarrecht: Darf der Landesgesetzgeber die Rechte des modernisierungswilligen Eigentümers gegenüber den Nachbarn über das BGB hinaus erweitern?
- In § 912 BGB ist geregelt, unter welchen Voraussetzungen ein Überbau auf das Nachbargrundstück im Zusammenhang mit der Errichtung eines Gebäudes geduldet werden muss.
- Zugleich hat der Bundesgesetzgeber einen Regelungsvorbehalt für landesrechtliche Nachbarregelungen vorgesegehen (Art. 1 Abs. 2 EGBGB, Art. 124 EGBGB).
- Umstritten war bislang, ob Landesregelungen, die den Nachbarn zur Duldung einer nachträglichen grenzüberschreitenden Wärmedämmung des Grundstückseigentümers verpflichten, aufgrund dieses Vorbehalts rechtmäßig sind.
Ja, sagt der BGH – anhand des § 23a Abs. 1 NachbarG NW. Widerlegt ist damit jene Ansicht, die meinte, § 912 BGB regele den Überbau abschließend, weshalb ein vorsätzlicher Überbau, um den es sich bei einer Wärmedämmung handele, nicht geduldet werden müsse.
Das Landesrecht darf Beschränkungen enthalten, die dieselbe Rechtsfolge wie eine vergleichbare nachbarrechtliche Regelung des Bundes anordnen, aber an einen anderen Tatbestand anknüpfen und einem anderen Regelungszweck dienen; allerdings muss dabei die Grundkonzeption des Bundesgesetzes gewahrt bleiben.
BGH
Landesrechtliche Regelungen zur Duldungspflicht des Nachbarn bei nachträglicher grenzüberschreitender Wärmedämmung:
- § 23a NachbarG NW
- § 10a NachbarG HE
- § 19a BbgNRG
- § 21a NachbarG
- § 16a NachbarG Bln
- § 7c NRG BW
- § 19a NachbarG SL
- Art. 46a BayAGBGB
- § 24a AGBGB Bremen
- § 14a ThürNRG
- § 16a NachbarG Bln
- § 74a HBauO
Die auf die Wärmedämmung bezogenen landesrechtlichen Duldungspflichten des Nachbarn gehen über das BGB insoweit hinaus, dass sie einen vorsätzlichen Überbau des Grundstücksnachbarn umfassen und erlauben. Dies aber ist gerechtfertigt in einer spezifischen baulichen Situation – und im öffentlichen Interesse, wie der Bundesgerichtshof mit Verweis auf die Klimaschutz-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und §§ 3, 4 KSK, Art. 20a GG ausführt:
- Die Duldungspflichten des Nachbarn sollen dem Grundstückseigentümer einen bewussten und geplan- ten Überbau zu dem spezifischen Zweck der nachträglichen energetischen Gebäudesanierung ermöglichen, wenn die Grenzbebauung die Inanspruchnahme des Nachbargrundstücks erforderlich macht.
- Die energetische Gebäudesanierung soll zur Energieeinsparung führen, die schon wegen der nunmehr durch das Klimaschutzgesetz vorgegebenen Verminderung von Treibhausgasemissionen im allgemeinen Interesse liegt.
Die Entscheidung des BGH ist mithin nicht nur ein besonders starkes Beispiel dafür, welch große Bedeutung die Klimaschutz-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bis hin zu ganz zentralen Fragen des Zivilrechts und mit praktischen Folgen für Nachbarverhältnisse, Investitionsentscheidungen und Bauprojekte hat. Sie zeigt auch, dass sich das Recht an neue öffentlich-rechtliche Zielvorgaben bzw. an die Veränderung allgemein üblicher Standards infolge der bautechnischen Fortentwicklung anpasst und angepasst werden darf.
Die landesrechtlichen Duldungspflichten verschaffen dem Überbauenden – mit den Worten des BGH – aber keinen „privatnützigen unverdienten Vorteil“. Das folgt nicht nur aus dem allgemeinen Interesse am Klimaschutz. Das folgt auch aus dem Erfordernis einer differenzierten Regelung inklusive bestimmter Erforderlichkeits- und Verhältnismäßigkeits-Anforderungen – und einschließlich dem Erfordernis einer angemessenen Entschädigung des betroffenen Nachbarn.
HINWEIS:
Weiterhin gilt, dass Neubauten so zu planen sind, dass sich die Wärmedämmung in den Grenzen des eigenen Grundstücks befindet. Die landesrechtlichen Duldungspflichten erfassen nur die nachträgliche Wärmedämmung von bestehenden Gebäuden.
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