Das Bundesverfassungsgericht hat in seinen beiden „Bundesnotbremse-Entscheidungen“ zu den Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen sowie zu den Schulschließungen erneut die Pflicht des Staates zum Schutz von Leben und Gesundheit gestärkt (siehe auch schon: Was ist Klimaschutz? Nachhaltigkeit & Recht nach der KSG-Entscheidung des BVerfG).
Es bestand nach dem BVerfG die dringende Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung dieser Rechtsgüter. Eine Pandemie bewirke eine lange andauernde, sich dynamisch entwickelnde und mit vielen Ungewissheiten behaftete Gefährdung von Leib und Leben. Die Eindämmung von Infektionen bedarf daher fortdauernder und wiederkehrender Maßnahmen.
Das BVerfG legt ausführlich dar, dass der Gesetzgeber in der Corona-Pandemie annehmen durfte, dass es darauf ankam, die Dynamik des Infektionsgeschehens möglichst umfassend und rasch zu durchbrechen, um die Bevölkerung vor Gefahren für Leib und Leben durch ein außer Kontrolle geratenes Infektionsgeschehen und eine dadurch bewirkte Funktionsunfähigkeit des Gesundheitssystems zu bewahren.
„Die Rechtsgüter Leben und Gesundheit sind als solche bereits Rechtsgüter von überragender Bedeutung, zu deren Schutz der Gesetzgeber nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verpflichtet ist.“
BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 19. November 2021 – 1 BvR 781/21, 1 BvR 889/21, 1 BvR 860/21, 1 BvR 854/21, 1 BvR 820/21, 1 BvR 805/21, 1 BvR 798/21 – Rn. 231; ebenso BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 19. November 2021 – 1 BvR 971/21, 1 BvR 1069/21 – Rn. 158
Gegen die „überragend wichtigen Gemeinwohlbelange des Lebens- und Gesundheitsschutzes sowie der Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Gesundheitssystems“ im Sinne des Bundesverfassungsgerichts vermochten die Beschwerdeführer nichts Durchgreifendes vorzutragen.
Die Entscheidung war zu erwarten und ist nicht zuletzt aufgrund der Klimaschutz-Entscheidung des BVerfG konsequent. Beide Entscheidungen sind letztlich dem Nachhaltigkeitsansatz verpflichtet, zu dem es gehört, Gefahren und unvertretbare Risiken für die menschliche Gesundheit und die Natur zu vermeiden. Es gilt das Vorsorgeprinzip und die Risikovorsorge, bezogen auf Viruspandemien ebenso wie bezogen auf Klimarisiken – und nach der Klimaschutz-Entscheidung sogar unter Berücksichtigung zukünftiger Generationen. Und da sowohl die Corona-Pandemie wie auch der Klimawandel immer deutlicher zeigen, wie vernetzt und verletzlich alle Lebens- und Wirtschaftsbereiche in Deutschland sind, geht es natürlich auch um gesellschaftliche Solidarität und Rücksichtnahme. Die „Bundesnotbremse-Entscheidungen“ bringen dies eindrucksvoll zum Ausdruck.
Die Entscheidungen zeigen aber zugleich, dass ein solches Verständnis von gemeinsamer Verantwortung für das Gemeinwohl und Schutzpflicht des Staates nicht überall geteilt wird. Das mag nicht neu sein. Erstaunlich ist aber durchaus, in welcher Art sogar gegenüber dem Bundesverfassungsgericht die Ablehnung zur Schau gestellt wird. Manch ein Vortrag der Beschwerdeführer erwies sich vor dem Hintergrund einer weltweiten, millionenfach tödlichen Viruspandemie als geradezu zynisch und arg weinerlich – und wurde vom Bundesverfassungsgericht schon als unzulässig verworfen. Highlights:
- So scheiterte ein Beschwerdeführer schon auf der Zulässigkeitsebene damit, eine Verletzung der Kunstfreiheit zu behaupten, da ihm die Möglichkeit des „Fotografierens bei Dämmerung und Dunkelheit“ in seiner Freizeit genommen werde.
- Befremdlich war auch der Versuch eines Beschwerdeführers, ausgerechnet das Schutzgut der körperlichen Unversehrtheit und Gesundheit, den Gleichheitsgrundsatz und die Menschenwürde gegen die Maßnahmen des Staates zum Schutz von Leben und Gesundheit anzuführen. Er spiele Basketball und pflege um 4 Uhr morgens an der frischen Luft Sport zu treiben. Hier würden Frühaufsteher gegenüber Personen, die in den Abendstunden Sport trieben, benachteiligt. Zudem sah er sich als Erwachsener benachteiligt – gegenüber Kindern. Schließlich werde er durch die Ausgangsbeschränkung menschenwürdewidrig als bloßer Virusträger abgestempelt. Bei der Zurückweisung dieses Versuches als unzulässig konnte das BVerfG seine Verwunderung kaum verbergen :
„Der Beschwerdeführer zeigt nicht auf, dass der täglich verbleibende Zeitraum von 19 Stunden für sportliche Betätigung im Freien nicht ausreicht, um diesen für die gesundheitsförderlichen Effekte des Sports zu nutzen. … Auch zu einer etwaigen Ungleichbehandlung von Frühaufstehern gegenüber abends Sport Treibenden entspricht der Vortrag nicht den Darlegungsanforderungen.“ - Nicht wenige Beschwerdeführer mussten sich höchstrichterlich sagen lassen, dass das, was in der Bubble mancher Gegner der staatlichen Schutzmaßnahmen „auf der Hand liegen“ mag oder zitierfähig erscheint, in der wirklichen Welt eben noch nicht einmal für einen zulässigen Antrag bei Gericht reicht.
Um ernsthafte Anliegen ging es am 01.12.2021 in der direkten Nachbarschaft des BVerfG: Beim Bundesgerichtshof. Dort ging es nicht um die Abwägung des Gemeinwohls gegenüber Einzelinteressen, sondern um den Konflikt von Einzelinteressen infolge der Corona-Pandemie. Ein Gewerbemieter hatte sein Einzelhandelsgeschäft aufgrund einer Allgemeinverfügung des Landes zur Corona-Pandemie geschlossen und daraufhin keine Miete an seinen Vermieter bezahlt. Der Vermieter forderte daraufhin die Miete gerichtlich ein, hatte beim Landgericht Erfolg, das Oberlandesgericht dagegen gab ihm nur zur Hälfte recht: Infolge des Auftretens der Corona-Pandemie und der staatlichen Schließungsanordnung sei eine Störung der Geschäftsgrundlage des Mietvertrags i.S.v. § 313 Abs. 1 BGB eingetreten, die eine Anpassung des Vertrags dahin gebiete, dass die Kaltmiete für die Dauer der angeordneten Schließung auf die Hälfte reduziert werde.
Und so landede der Streit beim Bundesgerichtshof, der am 1. Dezember 2021 über die Rechtsfrage verhandelte, ob ein Mieter von gewerblich genutzten Räumen für die Zeit einer behördlich angeordneten Geschäftsschließung während der Corona-Pandemie zur vollständigen Zahlung der Miete verpflichtet ist. Der BGH ließ erkennen, dass Pauschallösungen wie die des Oberlandesgerichts nicht durchgehen.
UPDATE 12. Januar 2022:
Der Bundesgerichtshof hat nun entschieden, dass im Fall einer Geschäftsschließung, die aufgrund einer hoheitlichen Maßnahme zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie erfolgt, grundsätzlich ein Anspruch des Mieters von gewerblich genutzten Räumen auf Anpassung der Miete wegen Störung der Geschäftsgrundlage gemäß § 313 Abs. 1 BGB in Betracht kommt:
- Dies ist nicht durch die für die Zeit vom 1. April 2020 bis zum 30. September 2022 geltende Vorschrift des Art. 240 § 2 EGBGB ausgeschlossen: Sie hat nach ihrem eindeutigen Wortlaut und ihrem Gesetzeszweck allein eine Beschränkung des Kündigungsrechts des Vermieters zum Ziel und sagt nichts zur Höhe der geschuldeten Miete aus.
- Die auf einer Allgemeinverfügungen beruhende Betriebsschließung führt jedoch nicht zu einem Mangel des Mietgegenstands i.S.v. § 536 Abs. 1 Satz 1 BGB, weshalb Minderung der Miete nach § 536 Abs. 1 BGB abzulehnen ist.
„Ergeben sich aufgrund von gesetzgeberischen Maßnahmen während eines laufenden Mietverhältnisses Beeinträchtigungen des vertragsmäßigen Gebrauchs eines gewerblichen Mietobjekts, kann dies zwar einen Mangel i.S.v. § 536 Abs. 1 Satz 1 BGB begründen. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass die durch die gesetzgeberische Maßnahme bewirkte Gebrauchsbeschränkung unmittelbar mit der konkreten Beschaffenheit, dem Zustand oder der Lage des Mietobjekts in Zusammenhang steht. Die mit der Schließungsanordnung verbundene Gebrauchsbeschränkung der Beklagten erfüllt diese Voraussetzung nicht. Die behördlich angeordnete Geschäftsschließung knüpft allein an die Nutzungsart und den sich daraus ergebenden Publikumsverkehr an, der die Gefahr einer verstärkten Verbreitung des SARS-CoV-2-Virus begünstigt und der aus Gründen des Infektionsschutzes untersagt werden sollte. Durch die Allgemeinverfügung wird jedoch weder der Beklagten die Nutzung der angemieteten Geschäftsräume im Übrigen noch der Klägerin tatsächlich oder rechtlich die Überlassung der Mieträumlichkeiten verboten. Das Mietobjekt stand daher trotz der Schließungsanordnung weiterhin für den vereinbarten Mietzweck zur Verfügung. Das Vorliegen eines Mangels i.S.v. § 536 Abs. 1 Satz 1 BGB ergibt sich auch nicht aus dem im vorliegenden Fall vereinbarten Mietzweck der Räumlichkeiten zur „Nutzung als Verkaufs- und Lagerräume eines Einzelhandelsgeschäfts für Textilien aller Art, sowie Waren des täglichen Ge- und Verbrauchs“. Die Beklagte konnte nicht davon ausgehen, dass die Klägerin mit der Vereinbarung des konkreten Mietzwecks eine unbedingte Einstandspflicht auch für den Fall einer hoheitlich angeordneten Öffnungsuntersagung im Falle einer Pandemie übernehmen wollte.“
BGH, Urteil vom 12. Januar 2022 – XII ZR 8/21
- Dafür, dass bei einer zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie behördlich angeordneten Betriebsschließung die tatsächliche Voraussetzung des § 313 Abs. 1 Satz 1 BGB einer schwerwiegenden Störung der Geschäftsgrundlage erfüllt ist, spricht nach dem BGH auch die neu geschaffene Vorschrift des Art. 240 § 7 EGBGB. Danach wird vermutet, dass sich ein Umstand im Sinne des § 313 Abs. 1 BGB, der zur Grundlage des Mietvertrags geworden ist, nach Vertragsschluss schwerwiegend verändert hat, wenn vermietete Grundstücke oder vermietete Räume, die keine Wohnräume sind, infolge staatlicher Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie für den Betrieb des Mieters nicht oder nur mit erheblicher Einschränkung verwendbar sind.
- Allein der Wegfall der Geschäftsgrundlage gem. § 313 Abs. 1 BGB berechtigt jedoch noch nicht zu einer Vertragsanpassung. Vielmehr verlangt die Vorschrift als weitere Voraussetzung, dass dem betroffenen Vertragspartner unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der vertraglichen oder gesetzlichen Risikoverteilung, das Festhalten am unveränderten Vertrag nicht zugemutet werden kann.
„Beruht die enttäuschte Gewinnerwartung des Mieters wie im vorliegenden Fall auf einer hoheitlichen Maßnahme zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie wie einer Betriebsschließung für einen gewissen Zeitraum, geht dies über das gewöhnliche Verwendungsrisiko des Mieters hinaus. Denn die wirtschaftlichen Nachteile, die ein gewerblicher Mieter aufgrund einer pandemiebedingten Betriebsschließung erlitten hat, beruhen nicht auf unternehmerischen Entscheidungen oder der enttäuschten Vorstellung, in den Mieträumen ein Geschäft betreiben zu können, mit dem Gewinne erwirtschaftet werden. Sie sind vielmehr Folge der umfangreichen staatlichen Eingriffe in das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie, für die keine der beiden Mietvertragsparteien verantwortlich gemacht werden kann. Durch die COVID-19-Pandemie hat sich letztlich ein allgemeines Lebensrisiko verwirklicht, das von der mietvertraglichen Risikoverteilung ohne eine entsprechende vertragliche Regelung nicht erfasst wird. Das damit verbundene Risiko kann regelmäßig keiner Vertragspartei allein zugewiesen werden.“
BGH, Urteil vom 12. Januar 2022 – XII ZR 8/21
- Dies bedeutet aber nicht, dass der Mieter stets eine Anpassung der Miete für den Zeitraum der Schließung verlangen kann. Ob dem Mieter ein Festhalten an dem unveränderten Vertrag unzumutbar ist, bedarf auch in diesem Fall einer umfassenden Abwägung, bei der sämtliche Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen sind (§ 313 Abs. 1 BGB).
- Eine pauschale Betrachtungsweise wird den Anforderungen an dieses normative Tatbestandsmerkmal der Vorschrift nicht gerecht.
- Deshalb kommt eine Vertragsanpassung dahingehend, dass ohne Berücksichtigung der konkreten Umstände die Miete für den Zeitraum der Geschäftsschließung grundsätzlich um die Hälfte herabgesetzt wird, weil das Risiko einer pandemiebedingten Gebrauchsbeschränkung der Mietsache keine der beiden Mietvertragsparteien allein trifft, nicht in Betracht.
- Es bedarf vielmehr einer umfassenden und auf den Einzelfall bezogenen Abwägung, bei der zunächst von Bedeutung ist, welche Nachteile dem Mieter durch die Geschäftsschließung und deren Dauer entstanden sind.
- Diese werden bei einem gewerblichen Mieter primär in einem konkreten Umsatzrückgang für die Zeit der Schließung bestehen, wobei jedoch nur auf das konkrete Mietobjekt und nicht auf einen möglichen Konzernumsatz abzustellen ist.
- Zu berücksichtigen kann auch sein, welche Maßnahmen der Mieter ergriffen hat oder ergreifen konnte, um die drohenden Verluste während der Geschäftsschließung zu vermindern.
- Da eine Vertragsanpassung nach den Grundsätzen der Störung der Geschäftsgrundlage aber nicht zu einer Überkompensierung der entstandenen Verluste führen darf, sind bei der Prüfung der Unzumutbarkeit grundsätzlich auch die finanziellen Vorteile zu berücksichtigen, die der Mieter aus staatlichen Leistungen zum Ausgleich der pandemiebedingten Nachteile erlangt hat.
- Dabei können auch Leistungen einer ggf. einstandspflichtigen Betriebsversicherung des Mieters zu berücksichtigen sein.
- Staatliche Unterstützungsmaßnahmen, die nur auf Basis eines Darlehens gewährt wurden, bleiben hingegen bei der gebotenen Abwägung außer Betracht, weil der Mieter durch sie keine endgültige Kompensation der erlittenen Umsatzeinbußen erreicht.
- Eine tatsächliche Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz des Mieters ist nicht erforderlich.
- Schließlich sind bei der gebotenen Abwägung auch die Interessen des Vermieters in den Blick zu nehmen.
Das Urteil des BGH entspricht der hier bereits dargestellten Rechtslage (siehe nebenstehende Beiträge).
Für Anfang 2022 stehen auch weitere Verfahren beim BGH zu Betriebsschließungen infolge der Corona-Pandemie an, etwa zur Frage, ob die Versicherungen hierfür zahlen müssen.
Hier im FNI bleiben Sie auf dem Laufenden. Vor allem aber: Bleiben Sie gesund!
Siehe schon:
- Corona-Lockdown und Immobilienwirtschaft: Neues Gesetz zur Prozessbeschleunigung und Senkung von Miete und Pacht für Gewerbe, Handel, Hotel, Kultur, Gaststätten u.a. beschlossen (Update)
- COVID-19-Pandemie im Mietrecht und in der Stadtentwicklung: Kommen Mieterhöhungsverbot, Mietsenkungsgebot und Gewerbe-Mietpreisbremse?
- Handel, Gewerbe, Handwerk und Gastronomie in der Corona-Pandemie: Neues zur Miete, Pacht, Finanzierung und zum Versicherungsschutz
- Miete in der Corona-Krise: Rechtslage, staatliche Soforthilfe und gesetzliche Neuregelung von Stundung und Kündigungsschutz
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