Es gehört zu den alten Mythen des Bauvertragsrechts, einseitige Leistungsbestimmungsrechte, wie sie in § 1 Abs. 3 und 4 VOB/B oder heute in § 650b BGB geregelt sind, seien wegen eines Verstoßes gegen das Einigungs- und Konsensprinzip, den Grundsatz von pacta sunt servanda, die Vertragstreue und die Vertragsfreiheit unzulässig. Das ist immer schon unrichtig gewesen, wurde aber von den Kapellmännern und Leinemännern u.a. der Bauwelt eifrig in der deutschen Bauwelt verbreitet.

Richtigerweise unterliegt ein bestehendes Schuldverhältnis schon nach den allegemeinen Regeln (§ 311 BGB) der grundsätzlichen Möglichkeit rechtsgeschäftlicher, einseitiger oder zweiseitiger Änderungen, wobei die einseitige Gestaltung in jeder Phase des Schuldverhältnisses möglich ist. Es ist gerade der Vertragsfreiheit geschuldet, einseitige Leistungsbestimmungsrechte insbesondere in langfristigen Verträgen als vertragliches, geeignetes und anerkanntes Gestaltungsmittel grundsätzlich zuzulassen.

Gerade die Vertragstreue der Parteien kann eine Vertragsdynamisierung fordern und rechtfertigen. Es stellt ein Gebot und die logische Folge der Vertragsfreiheit im Bauvertragsrecht dar, den Auftragnehmer an seinem privatautonomen Versprechen der Erfolgserreichung auch und gerade dann festzuhalten, wenn sich die tatsächlichen Umstände ändern und Leistungen erforderlich werden, die ursprünglich nicht in der Leistungsbeschreibung vereinbart waren.

Und gerade in der Bauwirtschaft ist es praktisch unvorstellbar, die Leistungspflicht des Auftragnehmers an den Grenzen der vereinbarten Leistungsbeschreibung enden zu lassen. Die Ablehnung von als erforderlich erkannten und bei Bauverträgen als komplexe Langzeitverträge i.d.R. unvermeidbaren Leistungsänderungen oder -erweiterungen würde die Aufgabe der Bauwerksvollendung und das Scheitern des Investitionsvorhabens des Auftraggebers mit unabsehbaren Schadensfolgen bedeuten.

Der Grundsatz pacta sunt servanda und das Vertragsprinzip sind bei vertraglichen Anpassungsmechanismen gerade nicht in Frage gestellt: Der Auftragnehmer erklärt sich z.B. bei der Vereinbarung der VOB/B bereits bei Abschluss des Vertrages mit den Leistungsbestimmungsrechten des Auftraggebers nach § 1 Abs. 3 und 4 VOB/B einverstanden. Diese Vertragsklausel stellt Ursprungsvertrag unter den Vorbehalt der einseitigen Änderung und der Auftraggeber, der sein vertragliches Anpassungs- und Änderungsrecht ausübt, verhält sich genau so , wie es vom Vertrag vorgesehen ist.

Siehe ausführlich:
Der Bauvertrag als symbiotischer Interessenwahrungsvertrag. Ein Beitrag zur Institutionenbildung im Bauvertragsrecht unter Berücksichtigung von PPP/BOT-, Projektfinanzierungs- und Partnering-/Alliancingmodellen

Der BGH hat nun in einer aktuellen Entscheidung den letzten Sargnagel für diesen Mythos mit Verve versenkt. Er bestätigt, dass etwa im Fall der Vereinbarung der VOB/B das Leistungsbestimmungsrecht des Auftraggebers und ebenso die damit verbundene Mehrvergütungsforderung des Auftragnehmers bereits im Ursprungsvertrag vereinbart ist:

  • Zwar handelt es sich bei angeordneten Änderungs- oder Zusatzleistungen um solche, die im ursprünglichen Vertrag zunächst nicht aufgeführt waren.
  • Sie beruhen jedoch ebenfalls auf der Einigung der Vertragsparteien, weil diese sich im Vertrag z.B. durch Vereinbarung der VOB/B auf ein – von bestimmten Voraussetzungen abhängiges – einseitiges Leistungsbestimmungsrecht des Auftraggebers und damit auf die Verpflichtung zur Ausführung der Leistungen für den Fall der Ausübung des Rechts geeinigt haben.

Hinweis:
Nichts anderes gilt nach dem BGH, wenn ergänzend geltendes dispositives Recht – wie seit dem
1. Januar 2018 § 650b Abs. 2 BGB – ein Recht zur Anordnung von Leistungsänderungen gewährt.

  • Die Vergütung für diese Leistungen ist ebenfalls bereits im Vertrag – für den Fall ihrer Anordnung – vereinbart.
  • Dem steht weder entgegen, dass die zugrundeliegenden Leistungen auf Anordnung des Auftraggebers erbracht worden sind, noch, dass keine Einigung auf eine bestimmte Höhe der Vergütung existiert.
  • Einem Auftragnehmer können – bei Vereinbarung der VOB/B – nach § 2 Abs. 5 oder 6 VOB/B in Verbindung mit § 1 Abs. 3 oder Abs. 4 Satz 1 VOB/B zusätzliche Vergütungsansprüche auch dann zustehen, wenn die in diesen Bestimmungen vorgesehene Vereinbarung über den neuen Preis beziehungsweise über die besondere Vergütung nicht zustande kommt.
  • Es reicht aus, dass die Mehrvergütung bestimmbar ist. Das ist, ebenso wie etwa in den Fällen des § 632 Abs. 2 BGB oder bei Vereinbarung von Einheitspreisen, Stundenlöhnen oder Selbstkostenerstattung (vgl. § 2 Abs. 2 VOB/B) für die im Vertrag aufgeführten Leistungen, der Fall.

Hinweis:
Der Anspruch des Auftragnehmers auf Mehrvergütung entsteht nach ständiger Rechtsprechung des BGH mit der Ausübung des einseitigen Leistungsbestimmungsrechts durch den Auftraggeber. Der Auftragnehmer kann bei einer mehrvergütungspflichtigen Leistungsanordnung des Auftraggebers unmittelbar den Mehrvergütungsanspruch einklagen, er muss den Auftraggeber nicht etwa erst auf Zustimmung verklagen. Der Mehrvergütungsanspruch ist bei einer Vereinbarung der VOB/B unter Berücksichtigung der Vorgaben der VOB/B, im Übrigen nach Maßgabe des jeweiligen Vertrages zu ermitteln.

Der BGH hat diese Rechtsfragen entschieden, um festzustellen dass Ansprüche nach § 2 Abs. 5 oder 6 VOB/B in Verbindung mit § 1 Abs. 3 oder Abs. 4 Satz 1 VOB/B solche auf Zahlung einer „auch in Zusatzaufträgen vereinbarten Vergütung“ im Sinne von § 648a Abs.1 Satz 1 BGB a.F. (§ 650f BGB n.F.) sind. Der Auftragnehmer kann mithin entgegen einiger namhafter Stimmen in der Bauliteratur auch für solche Nachtragsforderungen Sicherheit verlangen.

Hinweis:
In der Konsequenz der BGH-Rechtsprechung gilt dies auch, wenn eine Vereinbarung über den neuen Preis beziehungsweise über die besondere Vergütung nicht zustande kommt.

Die spannende Frage war nun aber, welche Feststellungen zum Bestehen derartiger Vergütungsansprüche notwendig sind, damit der Anspruch auf Sicherheit begründet ist. Dies war bislang umstritten. Der BGH entscheidet die Streitfrage wie folgt zweistufig:

  1. Mehrvergütungsanspruch dem Grunde nach: Das Gericht muss feststellen, ob der Rechtsgrund für einen zusätzlichen Vergütungsanspruch nach § 2 Abs. 5 oder 6 VOB/B gegeben ist, ob also insbesondere wirksame Anordnungen des Auftraggebers im Sinne von § 1 Abs. 3 oder Abs. 4 Satz 1 VOB/B vorliegen.
  2. Mehrvergütungsanspruch der Höhe nach: Steht fest, dass eine Vergütung für Nachträge dem Grunde nach geschuldet ist, reicht hinsichtlich ihrer Höhe ein schlüssiger Vortrag des Auftragnehmers aus, um hierfür einen Anspruch auf Sicherheit zu begründen.

Hinweis:
Widerlegt ist damit sowohl die Ansicht, die meinte, ein bloßes Bestreiten eines Vergütungsanspruchs (für „Nachträge“) dem Grunde nach schließe einen Anspruch auf Sicherheit hierfür von vornherein aus, als auch die Ansicht, die es für ausreichend erachtete, dass der Auftragnehmer die Voraussetzungen solcher Ansprüche dem Grunde und auch der Höhe nach schlüssig vorträgt.

Das Gericht muss für den Anspruch auf Stellung einer Sicherheit gemäß § 648a Abs. 1 Satz 1 BGB a.F. feststellen, ob der Rechtsgrund für einen zusätzlichen Vergütungsanspruch nach § 2 Abs. 5 oder 6 VOB/B gegeben ist, ob also insbesondere wirksame Anordnungen des Auftraggebers im Sinne von § 1 Abs. 3 oder Abs. 4 Satz 1 VOB/B vorliegen. Dagegen reicht hinsichtlich der Höhe des Vergütungsanspruchs ein schlüssiger Vortrag des Auftragnehmers aus.

BGH, Urt. v. 20.10.2022 – VII ZR 154/21

© Copyright by Dr. Elmar Bickert