Mit dem „Wohl der Allgemeinheit“ lässt sich bekanntlich vieles begründen. Entscheidend ist nur, wie man das „Wohl“ definiert und wen man unter der „Allgemeinheit“ versteht. An Recht und Gesetz kommt man damit trotzdem nicht vorbei. Das hat das Bundesverfassungsgericht dem Land Berlin schon zur Verfassungswidrigkeit des Berliner Mietendeckels beigebracht: Auch der Begriff „Gemeinwohlbelang“ ist nicht geeignet, von einem Verstoß gegen Bundesrecht und gegen die Verfassung abzulenken.

Soweit der Senat und das Abgeordnetenhaus im Verfahren vortragen, dass im Zentrum des Gesetzes zur Mietenbegrenzung im Wohnungswesen in Berlin nicht die Herstellung der Parität im individuellen Vertragsverhältnis zwischen dem Vermieter und dem Mieter stehe, sondern zur Realisierung von Gemeinwohlbelangen auf den Mietwohnungsmarkt Berlins als Ganzes eingewirkt werden solle, folgt daraus nichts anderes.Bundesverfassungsgericht

Es ist auch Berlin, von wo man hört, sogar die Enteignung von Wohnungsunternehmen sei zum Wohle der Allgemeinheit zulässig. Aber auch eine Stufe darunter bedient man sich in Berlin gerne dem „Wohl der Allgemeinheit“: Bezirksämter rechtfertigen die Ausübung von gemeindlichen Vorkaufsrechten mit dem Wohl der Allgemeinheit.

Vorkaufsrechte

Eben erst hatte der hierfür mittlerweile berühmt-berüchtigte Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg und sein Baustadtrat vom Verwaltungsgericht Berlin und sogar vom Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg gesagt bekommen, er dürfe sein Vorkaufsrecht zugunsten einer landeseigenen Wohnungsbaugesellschaft ausüben, um der Gefahr zu begegnen, dass ein Teil der Wohnbevölkerung aus dem Gebiet verdrängt wird, wenn im Anschluss an die Veräußerung die Wohnungen aufgewertet und die Mieten erhöht oder die Miet- in Eigentumswohnungen umgewandelt würden. Das OVG hatte gemeint, dass

  • das Wohl der Allgemeinheit die Ausübung des Vorkaufsrechts rechtfertige,
  • die sozialen Erhaltungsziele gefördert würden,
  • erhaltungswidrige Entwicklungen zu befürchten seien, wenn das Vorkaufsrecht nicht ausgeübt wird,
  • ein gesetzlicher Ausschlussgrund für die Ausübung des Vorkaufsrechts nicht vorliege und
  • die zu erwartenden Nutzungen des Erwerbers ebenfalls zu berücksichtigen seien.

Die betroffene Immobiliengesellschaft wollte das nicht hinnehmen. Ihr vom Vorkaufsrecht betroffenes Grundstück liegt unstreitig im Geltungsbereich einer Erhaltungssatzung bzw. -verordnung, die dem Schutz der Erhaltung der Zusammensetzung der Wohnbevölkerung aus besonderen städtebaulichen Gründen dient. Nach dem Vortrag der Immobiliengesellschaft

  • verfehle das Oberverwaltungsgericht aber die rechtlichen Maßstäbe für den Nachweis einer konkreten Gefährdung der Erhaltungsziele und
  • gehe insbesondere zu Unrecht davon aus, dass der Ausschlussgrund des § 26 Nr. 4 BauGB nicht gegeben sei.

Die Immobiliengesellschaft zog vor das Bundesverwaltungsgericht – und gewann.

Das Vorkaufsrecht für ein Grundstück, das im Geltungsbereich einer Erhaltungssatzung bzw. -verordnung liegt, darf von der Gemeinde nicht auf der Grundlage der Annahme ausgeübt werden, dass der Käufer in Zukunft erhaltungswidrige Nutzungsabsichten verfolgen werde.

BVerwG 4 C 1.20 – Urteil vom 09. November 2021 

Der Bezirk durfte sein Vorkaufsrecht nach § 24 Abs. 1 Nr. 4 BauGB für das im Geltungsbereich einer Erhaltungsverordnung gelegene Grundstück nicht ausüben. Denn nach § 26 Nr. 4 Alt. 2 BauGB ist die Ausübung des Vorkaufsrechts ausgeschlossen, wenn das Grundstück entsprechend den Zielen oder Zwecken der städtebaulichen Maßnahmen bebaut ist und genutzt wird und eine auf ihm errichtete bauliche Anlage keine Missstände oder Mängel im Sinne des § 177 Abs. 2 und 3 Satz 1 aufweist.

  • Maßgeblich hierfür sind die tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung über das Vorkaufsrecht.
  • Im konkreten Fall lagen diese Voraussetzungen vor, d.h. zum Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung über das Vorkaufsrecht lag der Ausschlussgrund nach § 26 Nr. 4 Alt. 2 BauGB vor.
  • Der Ausschlussgrund darf auch nicht mit der Begründung übergangen werden, er fände auf Vorkaufsrechte für Grundstücke im Geltungsbereich einer Erhaltungssatzung keine Anwendung.
  • Entgegen dem OVG sind angeblich zu erwartende, zukünftige Nutzungen des Erwerbers nicht maßgeblich. Die Prüfung des OVG, ob zukünftig von erhaltungswidrigen Nutzungsabsichten auszugehen ist, scheidet schon grundlegend kraft Gesetzes aus.

Wieder einmal stoppt also ein Bundesgericht einen Versuch aus Berlin, sich mit dem politisch aufgeladenen Begriff „Wohl der Allgemeinheit“ über Bundesrecht hinwegzusetzen. Wie schon beim Mietendeckel gelingt es auch hier nicht, mit dem Ziel des Verdrängungsschutzes entgegen Recht und Gesetz jedes Mittel zu rechtfertigen. Und es erweist sich als unzulässig, den Umstand, dass der Verkaufsfall selbst keine Verdrängungsgefahr begründet, dadurch zu umgehen, dass man dem Kaufenden Absichten für die Zeit nach dem Ankauf als maßgeblich unterstellt, die eine Verdrängungsgefahr begründen.

Und wie reagiert Berlin? Der gleiche Reflex wie beim Mietendeckel. Berlins Senator für Stadtentwicklung und Wohnen zeigt sich uneinsichtig, hält das höchstrichterliche Urteil für eine „Katastrophe“ und möchte umgehend einen Vorschlag für eine Bundesratsinitiative erarbeiten. Das kennen wir vom Mietendeckel: Berlin klimaneutral – oder Mietendeckel 2.0: Die Hauptstadt zwischen Paris-Konformität und Verfassungsverstoß

Aufteilungsverbot

Und damit sind wir in einem weiteren Bereich, in dem die Berliner Bezirksämter gerade versuchen, den Gedanken des Verdrängungsschutzes für extensive Eingriffe in Immobilieneigentum zu nutzen. Es geht um die Beschränkung der WEG-Aufteilung zur Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen nach § 250 BauGB. Demnach darf eine Genehmigung zur WEG-Aufteilung nur versagt werden, wenn dies für die ausreichende Versorgung der Bevölkerung mit Mietwohnraum erforderlich ist. Die derzeit von der zuständigen Senatsverwaltung vorgegebene Verwaltungspraxis setzt sich nicht damit auseinander, wie dies konkret und vor allem verhältnismäßig zu prüfen und zu entscheiden sein soll. Man legt offenbar die Annahme zugrunde, die WEG-Aufteilung als solche würde die Versorgung der Bevölkerung mit Mietwohnraum mindern, eine in Wohnungseigentum umgewandelte Wohneinheit würde quasi per Aufteilungsakt dem (typischen) Wohnraummarkt entzogen. Richtigerweise ist das aber eine vielfach kritisierte Annahme. Und diese Kritik dürfte nach der neuen BVerwG-Entscheidung – wenngleich nicht zu § 250 BauGB, sondern zum Milieuschutzrecht ergangen – noch zunehmen.

  • Der Bundesrat-Ausschuss für Innere Angelegenheiten etwa hatte schon angemerkt, das Wohnungsangebot insgesamt werde durch die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen nicht negativ beeinflusst, bezahlbarer Wohnraum könne gleichermaßen als Miet- oder als Eigentumswohnung bestehen.
  • Und das Land Baden-Württemberg hatte schon zum Erstentwurf angemerkt: „Bezahlbarer Wohnraum kann gleichermaßen als Miet- oder als Eigentumswohnung entstehen oder bestehen, weshalb die Erhaltung oder Ausweitung einer Quote von Mietwohnungen als Zielsetzung einer Neuregelung nicht generell positiv bewertet werden kann. (…) Nach unserer Einschätzung ist jedoch vor allem die Verdrängung der bestehenden Wohnbevölkerung aus ihrem gewohnten Wohnumfeld schutzwürdig, nicht generell die Erhaltung einer Mietwohnung als solche, da der Charakter als Mietwohnung nicht als höherwertig gegenüber einer Eigentumswohnung angesehen werden kann.“

Gespannt sein konnte man in diesem Zusammenhang auf die Begründung der Berliner Landesverordnung. Allerdings erlebte man hier eine ganz andere Überraschung. Das Land Berlin erließ eine Umwandlungsverordnung nach § 250 BauGB vom 03.08.2021, veröffentlicht am 05.08.2021. Diese wurde aber mit der Umwandlungsverordnung nach § 250 BauGB vom 21.09.2021 (veröffentlicht am 06.10.2021, GVBl. S. 1175) schon wieder außer Kraft gesetzt. Was ist passiert?

Der Verordnungsgeber hat die Umwandlungsverordnung neu erlassen, weil nach richtiger Ansicht die erste Umwandlungsverordnung unwirksam ist. Die Begründung war erst am 13.08.2021 und damit verspätet veröffentlicht worden. Der Sache nach räumt der Verordnungsgeber die Unwirksamkeit der alten Umwandlungsverordnung mit dem Neuerlass einer Umwandlungsverordnung ein. Die neue Verordnung ist nun erst seit dem 07.10.2021 in Kraft, was einige Bezirksämter (entgegen den überwiegenden Grundbuchämtern) trotzdem nicht davon abhält, auf die bereits aufgehobene Alt-Verordnung abzustellen. Weitere Klärung werden die beim Kammergericht anhängigen Verfahren bringen.


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