Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg hat mit einem Beschluss vom 26.04.2023 entschieden, dass bei der abstandsflächenrechtlich relevanten Höhe H (§ 6 Abs. 4 BauO Bln) das Balkongeländer (ebenso Dachterassengeländer) zu berücksichtigen und die Bewehrung mitzurechnen ist, ohne dass es darauf ankäme, ob ein Geländer offen oder sonst transparent gestaltet ist.

Denn auch eine licht- und luftdurchlässige Gitterstruktur, die Bauteile eines Gebäudes überspannt und optisch den Eindruck einer Vorverlagerung der Außenwand vermittelt, kann abstandsflächenrechtlich als „Außenwand“ zu berücksichtigen sein. Für eine abstandsflächenrechtliche Relevanz im Rahmen des § 6 Abs. 1 BauO Bln kommt es nicht notwendig darauf an, dass eine gegen Außenluft und Witterungseinflüsse abschirmende Wand vorhanden ist. Nach dieser Rechtsprechung kann auch die Bewehrung von Balkonen oberer Bezugspunkt der Abstandsflächenberechnung sein.

OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 26.04.2023 – 10 N 56/20

Das Gericht widerspricht auch klar der Ansicht, in Berlin seien die Regelungen des Abstandsflächenrechts nicht mehr generell, sondern nur partiell nachbarschützend. Eine Rechtsverletzung des Nachbarn ist nach dem OVG bei einer Unterschreitung der Abstandsflächen stets zu bejahen, ohne dass es darauf ankäme, ob und inwieweit die Unterschreitung tatsächlich eine konkrete Beeinträchtigung bewirkt.

HINWEIS:
Auch die Regelung über Abweichungen nach § 67 BauO Bln soll kein Instrument zur Legalisierung von Abstandflächenverletzungen sein. Und die Abweichungsmöglichkeit nach § 6 Abs. 11 BauO Bln stellt den generellen Nachbarschutz der abstandsflächenrechtlichen Regelungen nicht in Frage, denn sie verlangt für eine Abweichung von den Abstandsflächen und Abständen nach § 67 BauO Bln weiterhin ausdrücklich, dass „deren Schutzziele gewahrt bleiben“.
Allerdings bleibt es dabei, dass nach § 6 Abs. 11 S. 2 BauO Bln eine atypische Grundstücksituation nicht erforderlich ist. Diese am 1. Januar 2017 in Kraft getretene Vorschrift stellt eine Reaktion des Landesgesetzgebers auf die Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg dar, wonach die Erteilung einer Abweichung von Abstandsflächenvorschriften nur in Ausnahmefällen bei Vorliegen einer atypischen Grundstückssituation zulässig war. Das OVG betont, dass das Gesetz damit nicht allgemein eine Atypik nicht mehr zur Voraussetzung für die Abweichung macht, sondern sich insoweit ausdrücklich auf die bis dahin in der Rechtsprechung geforderte „atypische Grundstückssituation“ beschränkt. Zudem nennt das OVG es einen „gewagten Schluss“, der Gesetzgeber habe ganz allgemein der baulichen Entwicklung des Gebietes im Bestand Vorrang vor der Erreichung der Schutzziele des Abstandsflächenrechts gegeben.

Die Entscheidung kann man vor dem Hintergrund, dass eben der IBB Wohnungsmarktbericht 2022 die erheblichen Rückgänge bei dem dringend benötigten Wohnungsneubau auch mit dem zunehmenden Mangel an einfach zu erschließenden Grundstücken, die in der Hauptstadt kaum noch auszumachen seien, begründet hat, bedauern. Geht es bei der heiß diskutierten Wohnraumfrage richtigerweise im Kern jedenfalls auch um Wohnraumschaffung durch Nachverdichtung und Baulückenschließung, ist eine Verschärfung des Baurechts in der nachzuverdichteten Nachbarschaft erst einmal eine Hürde für die Erschließung von Grundstücken zum Zweck des Wohnungsneubaus.

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Nachverdichtung von Baulücken im Innenbereich (§ 34 BauGB) oder Außenbereich (35 BauGB)? Auf den Bebauungszusammenhang kommt es an

Allerdings ist die Entscheidung auch Ausdruck des Verständnisses, dass der Wohnungsbau nicht zu Lasten der Qualität und insbesondere des Wohnkomforts gehen soll. Nach dem OVG gehört zu den Schutzzielen der abstandsflächenrechtlichen Regelungen des § 6 BauO Bln u.a. die Wahrung eines ausreichenden Sozialabstandes. Hierauf stellt das Gericht zentral ab. Und es betont, dass das nichts mit dem Schutz vor Geräuschimmissionen im Sinne des Bundesimmissionsschutzgesetzes zu tun hat.

Das abstandsflächenrechtliche Schutzziel der Wahrung eines ausreichenden Sozialabstandes im Interesse nachbarlichen Wohnfriedens bezweckt den Schutz der Privatsphäre vor unerwünschten Einsichtsmöglichkeiten und vor der unerwünschten Wahrnehmung sozialer Lebensäußerungen in der Nachbarschaft. Danach soll der Nachbar das mit der – wie hier – zulässigen Wohnnutzung verbundene sozialadäquate Verhalten in und auf baulichen Anlagen auf dem Vorhabengrundstück nur insoweit hinnehmen müssen, wie diese gegenüber seinem Grundstück die abstandsflächenrechtlichen Vorgaben einhalten.

OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 26.04.2023 – 10 N 56/20

Die Konfliktlage besteht nach dem OVG weder in der Art noch in dem Ausmaß wechselseitig erwarteter Geräusche, sondern in der abstandsflächenrechtswidrigen Nähe der Balkone zu den Grundstücken des Nachbarn. Mit den Balkonen wird nach dem OVG die zu Wohnzwecken genutzte Fläche im Inneren des Gebäudes durch eine im Freien liegende zusätzliche Nutzfläche in Form eines sog. Außenwohnbereiches erweitert.

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HINWEIS:
Schon am 15.02.2023 hatte das OVG Berlin-Brandenburg entschieden, dass auch eine bloße Nutzungsänderung ohne eine wesentliche Änderung der Bausubstanz eines Gebäudes eine abstandsflächenrechtliche Neubewertung erfordern kann, wenn die Nutzungsänderung auf wenigstens einen durch die Abstandvorschriften geschützten Belang (Belichtung, Belüftung, Besonnung, Brandschutz, Wohnfrieden) nachteiligere Auswirkungen als die bisherige Nutzung hat. Dazu kann auch die Änderung einer Lager- oder Büronutzung in eine Wohnnutzung gehören, für die andere Bauvorschriften gelten als für die frühere gewerbliche Nutzung und die in der Regel auch anderen Baugebieten zugewiesen ist.

Es bleibt aber auch dabei, was das OVG Berlin-Brandenburg schon zuvor entschieden hatte, insbesondere:

  • Im Wege einer durch die Bauaufsicht im Rahmen des Genehmigungsverfahrens sicherzustellenden Bebauung und durch bestimmte bauliche Maßnahmen können ungesunde Wohn- oder Arbeitsverhältnisse vermieden und damit die Schutzziele des Abstandsflächenrechts gewahrt werde. Hier gilt es, sich frühzeitig mit der Bauaufsicht zu etwaigen baulichen Kompensationsmaßnahmen abzustimmen.
  • Das Abstandsflächenrecht ist nach seinem Schutzzweck kein Instrument ist, durch das der Nachbar es in der Hand hätte, die Art und Weise der Anordnung eines Gebäudes auf dem Nachbargrundstück selbst zu bestimmen. Hier gilt es, sich an das öffentliche Baurecht zu halten und sich nicht durch Alternativwünsche von Nachbarn treiben zu lassen.

Und es bleibt dabei, dass es auch im Interesse des (Wohnungs-) Neubaus zumindest bei der Wahrung der landesrechtlichen Abstandsvorschriften keinen generellen Schutz vor Einsichtsmöglichkeiten in bestehende Wohn- oder Ruhebereiche gibt. Insbesondere in bebauten innerörtlichen Bereichen gehört es zur Normalität, dass von benachbarten Grundstücken bzw. Gebäuden aus Einsicht in das eigene Grundstück oder Gebäude genommen werden kann, so dass Einsichtsmöglichkeiten bei Einhaltung der Abstandsflächen grundsätzlich hingenommen werden müssen. Gerade auch nach der Rechtsprechung des OVG Berlin-Brandenburg genügt es für eine Verletzung des bauplanungsrechtlichen Rücksichtnahmegebots nicht, wenn ein Vorhaben die Situation für den Nachbarn nachteilig verändert.

Zu betonen ist, ebenfalls mit dem OVG Berlin-Brandenburg, der besondere Beurteilungsmaßstab für die städtebaurechtlichen Rechte und Pflichten von Nachbarn innerhalb einer verdichteten städtischen Wohnbebauung, welche durch ein gegenseitiges Austauschverhältnis geprägt sind und wozu gehört, dass relevante Beeinträchtigungen hingenommen werden müssen, weil anders eine verdichtete innerstädtische Wohnbebauung nicht möglich ist.

Besonders anschaulich hat dies kürzlich auch das OVG Magdeburg formuliert:

Gewähren Fenster, Balkone oder Terrassen eines neuen Gebäudes oder Gebäudeteils den Blick auf ein Nachbargrundstück, ist deren Ausrichtung, auch wenn der Blick von dort in einen Ruhebereich des Nachbargrundstücks fällt, nicht aus sich heraus rücksichtslos. Eigentümer oder Nutzer eines Grundstücks können nicht beanspruchen, dass ihnen auf den Freiflächen ihres Grundstücks ein den Blicken Dritter entzogener Bereich verbleibt. Wäre jeder Bauherr unter dem Gesichtspunkt der Rücksichtnahme verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die Öffnungen, Balkone und Freisitze des geplanten Gebäudes keine Blicke auf die umliegenden bebauten Grundstücke eröffnen, die die dort möglicherweise gegebenen „Rückzugsmöglichkeiten“ zunichtemachen, würde dies die Bautätigkeit in nicht wenigen Fällen erheblich erschweren, wenn nicht gar zum Erliegen bringen. Ein im Bauplanungsrecht wurzelnder Anspruch, zumindest auf einem Teil der Freiflächen des eigenen Grundstücks vor fremden Blicken geschützt zu sein, lässt sich auch nicht aus einem Recht auf Privatsphäre herleiten. Dass derjenige, der die eigenen vier Wände verlässt, dabei gesehen und sogar beobachtet werden kann, liegt in der Natur der Sache.

OVG Magdeburg, Beschl. v. 02.02.2023 – 2 M 97/22

Die Entscheidung des OVG Berlin-Brandenburg hat auch Auswirkungen auf das Mietrecht. Denn ein strenges Abstandsflächenrecht bei Balkonen kann dazu führen, dass ein negatives Wohnwertmerkmal im Mietspiegelrecht (nebenstehend Berliner Mietspiegel 2021) nicht einschlägig ist: Ist ein Balkon baurechtlich nicht zulässig, kann sein Fehlen kein negatives Wohnmerkmal begründen.

Siehe auch:
Wohnflächen-Abweichungen im Mietvertrag: Zur Minderung, Mieterhöhung, Mietsicherheit, zur Berechnung – und zur Anrechnung von Balkonflächen


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